Amalie Schaich Reinhardt

Vor dem Krieg

Im nationalsozialistischen Deutschland begann die Verfolgung der Sinti und Roma bereits im Jahr 1933. Im Juni 1938 wurde Amalie Reinhardts Vater verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Wenig später ereilte ihre Mutter das gleiche Schicksal. Die neunjährige Amalie und ihre vier Geschwister wurden wie Waisenkinder behandelt und von den Nazis in verschiedene Kinderheime gesteckt. Etwa ein Jahr später kam Amalie in das katholische Kinderheim Sankt Josephspflege im süddeutschen Ort Mulfingen. Dort wurden alle 41 Sinti-Kinder aus Württemberg untergebracht, um als Studienobjekte für die nationalsozialistische Rassenforschung zu dienen.

Minderwertig

Die Nationalsozialisten hatten 1936 eine „Rassenhygienische Forschungsstelle“ gegründet, in der sie die „Minderwertigkeit der Zigeunerrasse“ angeblich wissenschaftlich beweisen wollten. Eva Justin, die engste Assistentin des Leiters der Forschungsstelle, hatte sich das Heim von Amalie zur Forschung für ihre Doktorarbeit ausgesucht. Justin ließ die 41 Sinti-Kinder verschiedene pseudowissenschaftliche Tests ausführen, die beweisen sollten, dass sie geistig beschränkt waren, weil sie zu einer „minderwertigen Rasse“ gehörten. Dabei filmte und fotografierte sie ausgiebig. Als Justin ihre Forschungen beendet und die Dissertation abgeschlossen hatte, waren die Kinder dem Tode geweiht.

Z-10635

Es war der 9. Mai 1944, als Amalie und weitere 32 Sinti-Kinder aus dem Heim mit dem Bus zum Bahnhof gebracht wurden, angeblich zu einem Ausflug. Von dort ging es im Zug nach Auschwitz. Amalie: „In Dresden haben wir einen Bombenangriff miterlebt. Da war Fliegeralarm. Die SS-Männer haben unseren Gefängniswagen einfach abgesperrt, auf dem Gleis stehen lassen und sind fortgelaufen. Und wir Kinder waren ganz allein. Überall sind da die Bomben eingeschlagen, und wir hatten natürlich schreckliche Angst. Das werde ich niemals vergessen, diese Angst.” Vier Tage später kamen sie in Auschwitz-Birkenau an. Amalie wurde die Nummer Z-10636 (Z für „Zigeuner“) auf den Unterarm tätowiert, und sie musste Zwangsarbeit im Straßenbau leisten.

„Selektion“

Im Sommer 1944 begonnen die Nazis mit Blick auf die näher rückende Rote Armee damit, das „Zigeunerlager Auschwitz-Birkenau“ aufzulösen. Zuerst wurden alle „Zigeuner“ nach Arbeitsfähigkeit selektiert. Die damals 15 Jahre alte Amalie galt als arbeitsfähig und wurde dem Transport in das Konzentrationslager Ravensbrück zugeteilt. Ihre Geschwister blieben zurück.

Abschied

Amalie: „Als ich meine jüngeren Geschwister das letzte Mal sah, da hat mein Schwesterlein beim Abschied gesagt: ‚Du gehst, und wir werden verbrannt.‘ Das waren die letzten Worte, die ich von ihr hörte. Und das vergesse ich nie!" 2.900 Sinti und Roma wurden als „arbeitsunfähig“ eingestuft, vor allem viele Ältere, Kranke und Kinder. Nicht nur Amalies Bruder und ihre zwei Schwestern, auch die meisten anderen Kinder, die sie aus dem Kinderheim kannte. Sie alle wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 durch Vergasen ermordet. Amalie musste in Ravensbrück wieder Zwangsarbeit leisten und kam danach noch in das Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo sie befreit wurde.

Nach dem Krieg

Noch lange nach dem Krieg wurde der Völkermord an den Sinti und Roma in Deutschland geleugnet oder ignoriert. Täter wie Eva Justin konnten ungehindert eine neue berufliche Laufbahn beginnen, während die Opfer weder Anerkennung noch Entschädigung erhielten. Versuche, Justin vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen, schlugen fehl. Viele Sinti und Roma, die den Krieg überlebt hatten, zogen sich in aller Stille zurück und versuchten, ihre Identität als Sinti und Roma zu verbergen. Auch Amalie schwieg lange, bis sie in einer Fernsehdokumentation im Jahr 1994 zum ersten Mal von ihrem Leidensweg erzählte. In dieser Dokumentation kam auch erstmals die Rolle der katholischen Kirche öffentlich zur Sprache.